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Wissen, Intelligenz und Muttersprache

Anlaß: Oft wird in Diskussionen über den Wert der Muttersprache von qualitativen Argumenten Gebrauch gemacht, die aber kritischer Analyse nicht stand­hal­ten und so ihren Benutzer in Argumentationsnot bringen können. Dazu gehören Argumente wie: "wir denken auf deutsch und nicht auf englisch" oder "Sprache und Kultur bedingen einander".

Alle diese Argumente haben einen wahren Kern, ohne dessen Kenntnis sie aber anfechtbar sind. Dieser Kern soll hier auf Basis einer analytischen Theorie erläutert werden.

Einleitung: Menschliches Wissen und menschliche Intelligenz beruhen auf einem Wissensnetz im Gehirn, dem sogenannten Gesinn aus nichtsprachlichen Begriffen, das wir als das Gedächtnis, das Bewußtsein, aber auch oft als "das Unbewußte", im Englischen "mind" - vom Althochdeutschen "das Gemyned" (das Gemeinte) bezeichnen. Dieses Netz wird, aufbauend auf elementaren, ererbten Begriffen, im Laufe des Lebens durch Ab­bil­dung der Phänomene der Welt und meiner selbst (selbstreflexive Ich-Entwicklung) ständig erweitert und geordnet.
Die grundlegenden Lernvorgänge des Heranwachsenden sind Handlungsvorgänge mit der Mutter / Bezugsperson, die mutter­sprachlich begleitet werden. Sinnvolles Handeln der Mutter mit dem Kinde baut dessen Basiskategorien des Denkens auf; dies sind gefestigte Modelle von Realitäts- und Handlungsstrukturen. Durch die muttersprachliche Begleitung dieses Handelns werden sprachliche Begriffe konkreter Gegenstände und Sachverhalte der Welt mit diesen Basiskategorien untermauert, erweitert, redefiniert, definiert, und bleiben es ein Leben lang. Das ist quasi die Definition der Muttersprache, die sie von jeder Sprache, insbesondere jeder Fremdsprache, unterscheidet. Wir wollen das durch das Gegensatzpaar Spracherwerb (der Muttersprache) kontra Sprachenlernen (der Fremdsprache) verdeutlichen.
Als Beispiel könnte man das gemeinsame Abräumen des Geschirrs nach einer Mahlzeit nennen. Die Gegenstände und Sachverhalte sind z.B. die Teller, daß es große und kleine, schmutzige und saubere gibt. Diese wollen Mutter und Kind gemeinsam in die Küche schaffen. Die hierbei erworbenen Basiskategorien sind z.B. die Mengenlehre, Klassifikation, Skalierungen (groß, klein) und andere grundlegende Denkstrukturen. Das schlichte Wort "Teller" bekommt hier eine Verbindung zu diesen Denkstrukturen. So geht es mit allen Wörtern, die bei sinnvollen, strukturierten Handlungen erworben werden. Zudem unterliegen das Handeln, die Dinge und Sachverhalte selbst muttersprachlicher Klassifizierung und Wertung, bekommen Wörter der Muttersprache als Zugriffssymbol - werden lexikalisiert.

Deshalb ist die Mutter und ihre Sprache von eminenter Wichtigkeit für die Intelligenz. Sie kann nicht durch Fremdsprachenlehrer, Kindergärtnerinnen oder ähnliches ersetzt werden, ohne massive Schädigung von Bewußtsein (Gesinn) und Intelligenz hervorzurufen. Der muttersprachlich begleitete Erwerb der Basiskategorien ist erst mit etwa 14 Jahren vollendet, einem Alter, von dem an auch Fremdsprachlernen sinnvoll erscheint. Mit zuneh­mender Reife werden Begriffe zunehmend autonom sprachlich eingetragen, z.B. durch Lesen. Durch netzartige Kombination bekannter Wörter, etwa in einem Buch, werden neue Begriffe im Gesinn angelegt, diesem aufgeprägt. Die grundlegende Gesinn-Struktur, so vorhanden, bleibt erhalten - sie ist der Filter, durch den die Zukunft strömt.

Wissenschaftliche Theorien, Fachwissen sind nichts anderes als Teilnetze, die in das muttersprachlich aufgebaute Netz eingebettet werden, und, wenn sie muttersprachlich erfaßt werden, eine enge Verbindung mit vorhandenen muttersprachlich und intuitiv erworbenen Begriffen, damit den Basiskategorien eingehen.

Da die Muttersprache das sprachliche Abbildungswerkzeug fast aller Phänomene eines Kulturkreises ist, prägt sie, aufbauend auf dem initalen Wertsystem (Organisationsprinzip) der Mutter mit den Bedeutungs­verbindungen ihrer Wörter die Struktur des Wissensnetzes, also gehören Kulturkreiswissen und Muttersprache in einer Sprachgemeinschaft zusammen. Wissen und Sprache einer fremden Sprachgemeinschaft vermögen Kultur­kreiswissen zu erweitern, jedoch auch, ungefestigtes Kulturkreiswissen zu demon­tieren, bzw. stellen fragmentarische, nicht eingebettete Fremdkörper daneben.

Es folgt eine Reihe von Begriffsdefinitionen, die notwendig sind, um die Wissenstheorie zu verfeinern. Diese Wissenstheorie ist sowohl auf den Menschen als auch auf maschinelle Wissensverarbeitung, also auf "Künstliche Intelligenz" anwendbar.

Begriff: Menge aller Relationen zu anderen Begriffen, die diesen konstituieren. Relationen sind wieder Begriffe. Es gibt elementare, fest eingebaute Basisbegriffe (Basiskategorien erster Stufe). Wir bemerken, daß diese rekursive Begriffsdefinition noch nichts mit Sprache zu tun hat!

Schätzung: nur etwa 20% aller Begriffe "im Kopf" sind sprachliche Begriffe.

Sprachlicher, auch lexikalisierter Begriff: Begriff, der ein Wort oder Wortgebilde als Zeichen besitzt, womit er erreicht, kommuniziert, manipuliert werden kann.

Anmerkung: Nichtsprachliche Begriffe werden durch "Gefühl" erlebt bzw. durch vernetzte Umschreibung mitgeteilt, wenn sie denn mitteilbar sind. Sie sind, neben der Vererbung grundlegender (ontogenetischer) Basiskategorien, durch nichtsprachliches Erleben, Reflexion, Orthogonalisierung, Selbstordnung, durch sog. Induktive Begriffsbildung entstanden. Zu den Quellen gehören die Handlung, aber auch Musik, Photographie, Malerei, Film usw. insbesondere das Buch.
All die Wörter in einem Buch sind uns i.a. bereits bekannt. Der Verfasser setzt sie jedoch in neue, bedeutsame Relation; diese prägt sich uns u.U. als neuer Begriff auf, den wir künftig zur Lebensbewältigung nutzen.
Das Fernsehmedium, wahllos konsumiert, ist in diesem Zusammenhang als gefährlich einzustufen und hat unsere Jugend bereits geschädigt. Es ist weder ein Handlungs- noch ein Sprachmedium - so geht ihm die Fähigkeit ab, Basiskategorien zu entwickeln. Auch wenn der heranwachsende Mensch alle Bildungskanäle gesehen hätte, so bliebe er i.a. dumm, wenn er die sprachbegleitete Handlung mit der Mutter nicht erlebt hat. Jedoch wirken bewegte Fernsehbilder auf uns als aktueller Realitätsersatz. Texte kann man als Lügen entlarven, flüchtige Bildsequenzen nicht. So zerstört vorsätzliche Scheinwelt (virtuelle Realität) den Realitätsbezug der Menschen.

Nichtsprachliche Begriffe wirken unbewußt, intuitiv aus uns. Eine häufig benutzte, aber unvollständige Umschreibung für deren Wirkung ist der "Charakter des Menschen".

System: Relativ abgeschlossene, vollständige Menge zusammengehörender Komponenten, d.h. statischer und dy­nami­scher Subsysteme, auch abstrakter Objekte der Welt, und ihrer Relationen. Wegnahme von Komponenten bedeutet Unvollständigkeit bis hin zur Unkenntlichkeit des Systems. Auf einer Abstraktionsstufe elementare (d.h. als "unteilbar" wahrgenommene) Systeme nennen wir Objekte.

Modell: Menge aller Begriffe, die ein Phänomen der Realität (ein relativ abgeschlos­senes System) homomorph abbilden. Homomorphie kommt u.a. durch die Filterung mittels eines bereits im Gesinn vorhandenen Wertsystems (sic!) zustande. Nur deshalb kann das Gesinn die Welt überhaupt effektiv abbilden. Es gibt ja unendlich viele Modelle eines Systems - unterschiedlicher Sicht, Wertigkeit, Komplexität und Adäquatheit. Ein Modell ist ein Teilnetz eines semiotischen Netzes (Gesinns).

Wissen: Menge der Modelle eines Phänomens / Systems / Weltausschnitts im Gesinn.

Gesinn, auch Semiotisches Netz: topo-logische, dynamische Trägerstruktur des Wissens.

Sprache: Informationelles Handlungssystem der Menschen einer Sprachgemeinschaft. Dieses besteht nach Heinrichs (1981) aus der sigmatischen, semantischen, pragmatischen und syntaktischen Dimension. Das Gesinn entspricht bei ihm der semantischen Dimension (ist aber nicht Sprache); der Analysator / Generator von Sprache (das Sprachzentrum) ist zusätzlich zur semantischen eine Instanz der syntaktischen Dimension.

Intelligenz: Fähigkeit eines informationsverarbeitenden Systems, ein Modell einer Umwelt selbständig aufzubauen und zu transformieren, mit dem Ziel effektiver Lösung der diesem System durch die Umwelt auferlegten Probleme, einschließlich der Selbsterhaltung des Systems.

Bewußtsein: Erfaßbarer, mitteilbarer Teil des Gesinns, verwaltet von einem selbstreflexiven Ichpunkt, eines informationsverarbeitenden Systems.

Unterbewußtsein: Nicht selbst erfaßbarer, nicht mitteilbarer, aber selbstreflexiver, vermittelbarer Teil des Gesinns eines Menschen. In ihm mag sich die Schnittstelle zum nichtdeterministischen, polykontexturalen Teil des Gesinns befinden, möglicherweise des metaphysischen.

Selbstreflexiver Ichpunkt: Operatives Teilnetz, gleichzeitig Metanetz, das alle erworbenen Teilnetze des Gesinns auffinden, durchwandern, abbilden, erzeugen, vernichten und transformieren kann. Der Ichpunkt wird oft als "Seele" des Menschen betrachtet. Er mag Träger echter Freiheit sein, gemäß der konsistenten Freiheitsdefinition in dieser Wissenssammlung.

Einige dieser Teilsysteme eines (intelligenten) Systems wurden durch uns operationell definiert, programmtechnisch konzipiert; sie sind modellierbar. Für die Programmierung des selbstreflexiven Ichpunktes bedarf es der Erweiterung einer bestimmten mathematischen (algebraischen) Theorie - an der wir arbeiten.

Wissen, Intelligenz und Muttersprache: Das Gesinn und der Ichpunkt bilden ihre Struktur von der Geburt bis durchschnittlich zum 14-ten Lebensjahr heraus. Danach sind sie weitgehend gefestigt.
Da das semiotische Netz, das Gesinn, vor allem unter Anwesenheit der Muttersprache erworben wird, der einheitlichen, orthogonalisierten, verdichteten Abbildung des Systemnetzes eines Kulturkreises und des Wertsystems der Mutter, sind Wissen, Intelligenz und Muttersprache untrennbar miteinander verbunden. Die Struktur des System­netzes prägt die Struktur des Gesinns.

Ein fragmentiertes Systemnetz, ein zu frühzeitiger Sprach- und Wertewechsel, führt demnach zu einem fragmentierten Gesinn. Dieser Effekt ist oft bei Einwandererkindern zu beobachten, darüberhinaus bei Kindern, die frühzeitig auf die liebevolle Begleitung der Mutter oder eines anderen liebevollen, individuellen Erziehers verzichten mußten, z.B. durch staatliche Ganztagsbetreuung. Es ist also wichtig, das Gesinn bis etwa zum 14. Lebensjahr in einem vollständigen Sprachraum mit vollständiger muttersprachlicher Präsentation sowie einem konsistenten, im Kulturkreis widerspruchsfreien Wertsystem aufzubauen.

Sowohl die Bemühungen zu frühkindlicher (Englisch)-Immersion als auch die Bemühungen, Kinder frühzeitig völlig dem Elternhaus zu entziehen, zugunsten einer kollektiven Systemerziehung, führen zu schweren, auch kollektiven geistigen Schädigungen - zum Verlust gesellschaftlicher Reife in einer Zeit zunehmender Bedrohung durch gesellschaftliche Komplexität.

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